Schriften des Bundesverbands freiberuflicher Kulturwissenschaftler, Band 4

Arbeitsfeld Kultur.

Kompetenzen, Anforderungen und Perspektiven in einem wachsenden Berufsfeld

Herausgegeben von Stefan Nies und Bernd Oeljeschläger

Platzhalter

Raus aus dem Reservat!
Die Kulturgesellschaft als Perspektive

Von Adrienne Goehler

Adrienne Goehler

Während die Bundesregierung und ihre Kanzlerin vor Kraft kaum laufen können und uns täglich Uns-geht-es-prima-Meldungen über die Medien erreichen, hat sich die Situation der KunstproduzentInnen und KunstwissenschaftlerInnen ohne Anstellung keineswegs verbessert. Im Gegenteil: Seit dem Platzen der Bankenblase 2008 hat der Hype um die Kreativwirtschaft schlagartig aufgehört, der uns zwei Jahre lang eine warme Prise gestiegener Wertschätzung und auch ein wenig Geld beschert hatte. Der Grund für das Ende des Hypes ist einfach: Als FreiberuflerInnen versauen wir keine Arbeitslosenstatistik und steigern keine Exportzahlen, der Fetisch einer jeden Regierung. Wir kriegen auch keine Zuschüsse von der Arbeitsagentur für Kurzarbeit: Wir sind eine 'quantité négligable'. Die Kommunen zahlen die Zeche der Bankenrettung, sind ärmer denn je und reichen die Armut direkt an uns weiter: Denn Kultur ist keine Pflichtaufgabe!

Wenn wir uns auf die Suche nach möglichen Wegen und Umwegen in die Kulturgesellschaft begeben, dann tun wir dies im Nachbeben des Weltfinanz-Desasters und im Angesicht eines ökologischen Desasters, das tiefe Erschütterungen für Glaubensgrundsätze aller Art mit sich führt.

Erschüttert ist auch der Glaube an das Expertentum. Nachdem wir verstanden haben, dass wir die Schulen nicht der Schulbürokratie, die Arbeit nicht der Arbeitsagentur, die Umwelt nicht Politik, Industrie und Verbänden überlassen können, haben wir auch verstehen müssen, das Geld bei Geldspezialisten nicht gut aufgehoben ist.

Wenn Identitäten, Identifikationen und Selbstverständnisse auf allen Ebenen zu bröseln scheinen, liegt die Möglichkeit der Kunst vielleicht weniger in ihrem Wert als Handelsware, als darin, "Handlungskonzepte" zu produzieren, wie der Kunstpublizist Paolo Bianchi sagt, und Handlungsfelder zu eröffnen, durch Interventionen im öffentlichen, sozialpolitischen, ökologisch gefährdeten Raum. Auf diese Weise durchkreuzt sie das klassische Spezialisten-tum und erweitert zugleich ihren gesellschaftlichen Resonanzraum.

Wir haben also allen Grund neue, eigensinnige Wege zu beschreiten, die unsere gesellschaftliche Relevanz sichtbar werden lassen und in den Fokus nehmen, dass der Weg von einer Gemeinschaft, die vom Einzelnen mehr notwendige Selbstaufgabe als mögliche Selbstverwirklichung verlangt, hin zu einer Gesellschaft, in der die Freiheit des Einzelnen vor den Zwängen der Allgemeinheit geschützt und ein Interessenausgleich geschaffen wird, über die Kultivierung der Gesellschaft führt.

Ausgehend von den dramatischen Verwerfungen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen, innen- wie weltpolitisch gesehen, komme ich zu meiner 1. These:

Wir können es uns nicht leisten auf die Talente so vieler Menschen aus dem künstlerischen und wissenschaftlichen Bereich zu verzichten, indem wir diese auf ihren Marktwert reduzieren, bzw. sie überwiegend am oder unter dem Existenzminimum halten.

Wir leben also in einer Zeit des umfassenden gesellschaftlichen Übergangs, in einer Zeit des nicht mehr und noch nicht. Die Hoffnung auf "mehr, besser, schneller" ist nicht mehr. Eine Rückkehr zu Zeiten der Vollbeschäftigung und des Bismarckschen Sozialstaats wird es nicht mehr geben. Was an seine Stelle treten soll, damit "der Mensch ein Mensch ist, bitte sehr", ist noch nicht Gegenstand öffentlichen Nachdenkens.

Nicht mehr tragen die Konzepte der vergangenen zentralisierten, industrialisierten, in sich abgeschlossenen alten Welt, die auf Institutionen, Nationalstaaten und starren Hierarchien aufgebaut war. Nicht mehr tragen die Entwürfe der Industrie-, Dienstleistungs- und Arbeitsgesellschaft mit ihren herkömmlichen Strukturen und Verlässlichkeiten, nicht mehr die Wohlfahrtsansätze, die allesamt den Typus Mensch und Arbeit voraussetzen, den es nicht mehr als Regelfall, sondern nur als Ausnahme gibt: Den durchgängig beschäftigten männlichen Ernährer und Familienvorstand.

Wir leben in Zwischenzeiten, in denen wir nicht mehr genügend vom Vater, vom Staat versorgt werden, aber noch nicht andere - eigene - Wege beschreiten können, weil noch die Voraussetzungen für soziale Konstruktionen fehlen, die Hybride zwischen Fürsorge und Selbstorganisation erzeugen könnten.

Noch fehlt ein gesamtgesellschaftliches Nachdenken darüber, wie sich Lernen und Arbeit neu organisieren lassen, wie Erfahrungen, Wissen und Vermögen von Menschen einbezogen werden können, die aus unterschiedlichsten Gründen aus der Erwerbsarbeit heraus gefallen oder in diesen erst gar nicht hineingekommen sind.

Ein Sozial- und Wirtschaftssystem, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und die Teilhabe an der Gesellschaft nur mit einem "sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz" ermöglicht, der zwangsweise Ware oder Dienstleistung produziert, hat im 21. Jahrhundert seinen Sinn eingebüßt.

Denn wenn man das 19. und 20. Jahrhundert als das Zeitalter der Institutionalisierung begreifen kann, in denen man alle gesellschaftlich relevanten Fragen in feste Strukturen gepackt hat, (Facharbeiter-, Frauen-, Ökologie-) Bewegungen, die in der Folge selbst zu Institutionen geworden sind, dann muss das 21. Jahrhundert als das der ungesicherten Projektarbeit verstanden werden.

Im Zwischenraum zu sein bedeutet, Ambivalenzen aushalten zu müssen. Es erfordert individuellen, gesellschaftlichen und politischen Mut, sich diesen Zwischenraum zu vergegenwärtigen. Es bedeutet die Auseinandersetzung mit Angst und Abhängigkeit, mit dem Verlust von Erfahrung, persönlicher Sicherheit und staatlicher Fürsorge.

Der Philosoph Dietmar Kamper resümierte: "Einerseits sind die Menschen aus herkömmlichen Bindungen freigesetzt, andererseits fehlt ihnen für das Leben in radikal offenen Kontexten die Erfahrung. So kommt es zu experimentellen Selbstverhältnissen, die kurzatmige, aber kulturell relevante Lebensstrategien hervortreiben."

An dieser Diagnose des Nicht-Mehr-Noch-Nicht setzt der Gedanke der Kulturgesellschaft an, der das Noch Nicht als Möglichkeit, als gedankliche und praktische Überschreitung des bestehenden Mangels versteht. Er basiert auf der Behauptung, dass künstlerische Strategien für diese radikal offenen Kontexte, für den Umgang mit Leere bislang nicht genügend auf ihre gesellschaftliche Wirkkraft hin untersucht worden sind. Künstlerisches wie wissenschaftliches Arbeiten lebt von einer Mischung aus Selbstreflexion und dem Schaffen von Neuem, neuen Formen des Denkens, Gestaltens, Sehens. Ihm ist das Anfangen und Aufhören inhärent, es lebt vom selbst gewählten, ständigen Neubeginn, wie Hannah Arendt bemerkte.

KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen sind geübter als andere, von ihnen ist das Denken in Übergängen, Provisorien, Modellen und Projekten zu lernen, und ganz entscheidend: den produktiven Umgang mit Irrtum!

Deshalb kommt die Kulturgesellschaft, die sich als gestaltend versteht, nicht ohne die Künste und Wissenschaften aus und es geht um die Möglichkeiten, die experimentellen Selbstverhältnisse der Künste und Wissenschaften (das Erfinden, Verwerfen, Umwege gehen, Neuzusammensetzen, Vorwegnehmen ...) für den gesellschaftlichen Gebrauch zu öffnen. Denn sie besetzen gerade die Stelle, an der Soziales und Politisches aufeinander bezogen sind. Und genau an dieser Stelle findet die Kultur ihre aktuellen Herausforderungen, ihre Antriebskräfte, Bedingungen, Zwänge, Abgründe.

Neu ist, dass wir in dieser Art zu arbeiten zu einer Art "ökonomischen Rollenmodell" werden, denn die Arbeitsplätze der Zukunft werden sich, einer Studie des Wissenschaftszentrum Berlin folgend, stark an denen der Künstler und Publizistinnen orientieren: "selbstbestimmter, kompetitiv, wechselhaft in Art und Umfang des Beschäftigungsverhältnisses, in stärkerem Maße projekt- und teamorientiert, zunehmend in Netzwerke und weniger in Betriebe integriert, mit vielfältigen und wechselnden Arbeitsaufgaben, schwankender Entlohnung oder Vergütung und kombiniert mit anderen Einkommensquellen oder unbezahlter Eigenarbeit". Damit verkörpern sie laut den AutorInnen der Studie "Elemente einer verallgemeinerungsfähigen Lösung für die neuen Freiheiten und Unsicherheiten".

Die Gesellschaft ist aber auf diese offenen, unabgesicherten Formen der Arbeit noch nicht vorbereitet. Deshalb wird es darauf ankommen, neue Modelle zu erfinden, die einen gesellschaftlichen Mehrwert erzeugen, die Verbindungen und Kooperationen zwischen den noch voneinander abgegrenzten gesellschaftlichen Bereichen suchen und Mischformen generieren. Eine Kulturgesellschaft definiert sich nicht mehr in erster Linie über Lohnarbeit und die zunehmende Abwesenheit derselben. Sie erkundigt sich nach dem Vermögen eines Einzelnen, das mehr umfasst als seine Arbeitskraft und seinen Marktwert. In einer Kulturgesellschaft müsste es darum gehen, aus einer sozialen Arbeit, die Ungerechtigkeiten notdürftig ausgleicht, eine solche zu machen, die Gesellschaft gestaltet: mit Selbstverantwortung, Vertrauen, Hingabe, Eigeninitiative, Experimentieren, Ausprobieren, Verwerfen.

Kreativität ist der Rohstoff des 21. Jahrhunderts.

Die Kulturgesellschaft stützt sich auf die Kreativität, Vorstellungskraft und Phantasie der Menschen. Sie sind der wichtigste Rohstoff in Hochpreisländern ohne Bodenschätze. Allerdings ist Kreativität Strömung, umfeldabhängig, flüchtig, nicht Vorrat. Sie braucht Bedingun-gen, um sich ständig erneuern zu können und so Quelle von Nachhaltigkeit zu sein.

Die Kulturgesellschaft meint einen Entwurf, der nicht nur auf die überschaubare Gruppe derjenigen rekurriert, denen Kultur ihr Lebensmittel ist, sondern die Kultur als Matrix für schöpferisches Tun und dieses als allgemein menschliches Vermögen begreift.

Albert Einstein fasst den dialektischen Zusammenhang zwischen individueller Kreativität und gesellschaftlicher Entwicklung kurz und präzise: "Ohne schöpferische, selbstständig denkende und urteilende Persönlichkeiten ist eine Höherentwicklung der Gesellschaft ebenso wenig denkbar wie die Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit ohne den Nährboden der Gemeinschaft."

Kreativität ist eben nicht als Exklusivgut zu verstehen, eben gerade nicht als der Bereich einiger "happy few". Es gibt kein Entweder-man-gehört-dazu-oder-man-wird-nie-dazugehören. Es geht um multidimensionale und experimentelle Denkweisen, die die unterschiedlichen Bereiche von künstlerischer, sozialer, technischer und ökonomischer Kreativität miteinander verbinden und über deren Chancen bereits in Kindergarten und Schule entschieden wird. So verstanden ist Kreativität der Prozessor in der Entwicklung zu einem gesellschaftlich Größeren und auch ökonomisch Potenteren.

Entscheidend ist deshalb der freie Zugang zu einer Bildung und einer Umgebung, die Kreativität als jeder und jedem Einzelnen innewohnende Fähigkeit versteht, die es zu entfalten gilt. Auch hierbei spielen die Künste und Wissenschaften für mich eine herausragende Rolle.

Der Entwurf der Kulturgesellschaft lässt sich von der Frage leiten, welche soziale und ökonomische Entwicklung wir im Land brauchen, die identitätsstiftend in die Gesellschaft hinein und über sie hinaus wirken kann; von der Frage, welche ökonomischen Strukturen lebendige Beziehungen zwischen den Menschen freigeben, den Beziehungen der Menschen zu ihren eigenen Bedürfnissen wie zu ihrer Phantasie, zwischen geschichtlichen Lebensformen und denen der Natur.

Es geht darum, Lebenstätigkeiten zu ermöglichen, die eine Lebensqualität erzeugen, mit neuen Modellen gesellschaftlich und ökonomisch relevanter Tätigkeiten und der Schaffung neuer Arbeitsplätze im kreativen - also künstlerisch-wissenschaftlichen - Bereich, die zugleich auch eine Erweiterung des Kulturellen sein kann.

"Kultur versetzt die Menschen einer Gesellschaft erst in die Lage, ihre ökonomische, soziale und lebensweltliche Situation zu verstehen." Kultur kommt zustande, wenn die Fragen nach diesen Zusammenhängen und Wechselwirkungen gestellt und diskutiert werden.

Die kulturellen Räume der bildenden Kunst und des Theaters, der Musik und der Literatur, der Universitäten und andere Einrichtungen des Forschens und Erprobens, sind die traditionellen Orte der Vergegenwärtigung dessen, was war, ist und sein könnte. Und dabei muss es auch darum gehen, den künstlerischen und wissenschaftlichen Diskurs als ein Erkenntnisinstrument und Movens zur Veränderung im Hinblick auf den globalisierten Ökonomismus zu verstehen.

Die Idee einer Kulturgesellschaft stützt sich also auf:

  • einen veränderten Umgang mit Ökonomie, der eher von Erfindung denn von Reproduktion bestimmt ist;
  • einen Begriff von Arbeit, der sich nicht nur über die Erwerbsarbeit definiert, sondern gesellschaftlich relevante Tätigkeiten einschließt und Mischformen der Existenzsicherung unter dem Primat von Würde sucht;
  • die Künste und Wissenschaften als Antrieb gesellschaftlicher Veränderung und als Spezialistinnen des Übergangs;
  • eine wachsende Zahl von Cultural Creatives und neuen sozialen Bewegungen;
  • die brachliegenden Potenziale all derer, für die es gegenwärtig keinen Anlass und keine Perspektive gibt, sich zur Gesellschaft zu verhalten, sich als ein aktiver und verändernder Teil von ihr zu verstehen.
  • die Kulturgesellschaft setzt auf Durchlässigkeiten zwischen diesen gesellschaftlich und ökonomisch relevanten Bereichen, auf Verflüssigung.

"Wirklich sozial wird eine veränderte und sich verändernde Gesellschaft erst, wenn die Menschen nicht bedarfsbemessen werden, sondern sie selbst die Bedingungen herstellen können, ihren je möglichen, eigenen, aktiven Beitrag darin leisten zu können.

Die Kulturgesellschaft ist eine Haltung.

  • Sie reduziert die Menschen nicht auf ihr Dasein als Beitragszahler und Empfangsberechtigte eines Sozialstaats, auf Informationsempfänger und -lieferanten einer Wissensgesellschaft und nicht auf Konsumbürger eines Wirtschaftsstaats und definiert sich nicht in erster Linie über Lohnarbeit und die zunehmende Abwesenheit derselben.
  • Sie geht davon aus, dass wir neue Anerkennungs- und Beteiligungsformen brauchen, wenn zugrunde gelegt werden muss, dass es für immer mehr Menschen aus allen Schichten, Altersgruppen und ethnischen Herkünften keine Perspektive mehr einer herkömmlichen ökonomischen und sozialen Verortung gibt.

Die Kulturgesellschaft lässt sich leiten von:

  • Ergänzung und Zusammenspiel statt Zerteilung in Zuständigkeiten,
  • polyvalenten Strukturen statt zentraler Koordination,
  • Spannungen statt Standardisierung,
  • Partizipation durch herstellendes Handeln, das das Verwaltet-Sein ablöst.

Der Entwurf einer Kulturgesellschaft lädt ein zu begreifen, dass andere Formen als die Lohnarbeit zur Bedingung gesellschaftlicher Anerkennung gemacht werden müssen. Er lädt dazu ein, die Arbeit als sinnvolle Tätigkeit zu retten, aber nicht alles, was nicht Erwerbsarbeit ist, als sinn- oder bedeutungslos oder als nicht vergütbar zu erachten. Sonst bleiben wir in den Strukturen einer überkommenen Arbeitsgesellschaft stecken, die Hannah Arendt so beschrieben hat: "An die Stelle von Dauer, Haltbarkeit, Bestand, die Ideale von Homo faber, des Weltbildners, ist das Ideal des Animal laborans getreten, das, wenn es träumt, sich den Überfluss eines Schlaraffenlands erträumt. [...] Die künstlerischen Berufe - genau gesprochen die einzigen 'Werktätigen', welche die Arbeitsgesellschaft übrig gelassen hat - bilden die einzige Ausnahme, die diese Gesellschaft zu machen bereit ist."

Deshalb unterscheidet sich die Kulturgesellschaft auch von einer Wissensgesellschaft, weil sie nicht nur auf den Kopf der Menschen zielt, sondern ihn mit all seinen Sinnen, Psyche wie Physis und Geist meint.

"Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität", sagt Beuys. Arbeit wird vor diesem Hintergrund eine vom Menschen in Freiheit und Selbstbestimmung in Angriff genommene Gestaltungsaufgabe - sowohl am Arbeitsplatz als auch bezogen auf die Gesellschaft. Das meint dann "Soziale Plastik": Die EntEdelung der Kunst durch ihre Benutzbarkeit als gesellschaftliches Verflüssigungsmoment.

Dafür brauchen wir ein grundsätzlich anderes Verständnis von Lebens- und Arbeitstätigkeiten. Wir brauchen andere Modelle der Teilhabe und der Anerkennung. Und dafür brauchen wir gewiss ganz andere Finanzierungsformen. Seit einiger Zeit macht daher ein Modell Furore, das einer anderen Logik folgt, als der der Unterjochung unseres gesamten Lebens unter die Ökonomisierung, das radikal verändert, was der Kultursoziologe Wolfgang Engler als das "Cogito der Lohnerwerbsarbeit" beschreibt: "Ich werde bezahlt, also bin ich". Es ist die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens.

In den letzten Jahren dehnen sich die Künste zum Nutzen aller auf andere gesellschaftliche Terrains aus, denen aber kaum Fördergefäße entsprechen. Ein Töpfchen kulturelle Bildung, ein Fingerhut Migration, je ein gestrichener Teelöffel Stadtentwicklung und Umwelt. Ein Becher Kinder.

Und weil ich seit Jahren nicht übersehen kann und will, dass die freiberuflichen KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen auch die Avantgarde der prekären Verhältnisse bilden, denke ich Kulturgesellschaft schließlich auf der Grundlage und im Zusammenhang mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen, um Gesellschaft verändern, um in ihr und für sie tätig werden zu können. Denn die große Gegenspielerin der Kreativität ist die Existenzangst. Existenzangst lässt erstarren. Das gilt freilich nicht nur für die Künste und Wissenschaften. Aber wir brauchen eine offene Debatte darüber, ob sich eine Gesellschaft wie die unsere, es sich leisten kann, auf das Können der Künste zu verzichten, bzw. sie überwiegend am oder unter dem Existenzminimum zu halten.

Wir kennen die Zahlen der Künstlersozialkasse: Das Durchschnittsjahreseinkommen aller bei ihr versicherten Künstler beträgt 14.999 Euro, das der Künstlerinnen 11.355 Euro. Das Durchschnittseinkommen von Arbeitnehmern lag 2009 bei 27.648 Euro brutto, die offizielle Armutsgrenze wird bei 11.256 Euro verfügbaren Einkommens gezogen.

Hartz IV hat zu allen Übeln auch die im deutschen Kultursektor übliche Mischung aus Projektbeschäftigung und temporärer Arbeitslosigkeit zulasten derjenigen radikal beschränkt, deren Beschäftigungsphasen relativ kurz sind. Einem Gedanken des Sozialpolitologen Michael Opielka folgend, einem der Langstreckendenker auf dem Gebiet des Grundeinkommens, ist damit eine Grenze erreicht, "unterhalb derer der Glücksgewinn in Existenzangst umschlägt und damit Kunstproduktion behindert". Er schließt die rhetorische Frage an: "Verweist eine wohlfahrtsstaatliche Absicherung von Künstlern nicht auf ein grundlegendes Problem der Einkommensverteilung in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften: die marktwirtschaftliche Ideologie, nur Markteinkommen seien gerechte Einkommen?"

Diese Diagnose reicht weit über das künstlerische Milieu hinaus. Nicht nur die Kunstproduktion wird durch anhaltende Existenzangst behindert, viel allgemeiner behindert sie empfindlich den kreativen Umgang mit dem eigenen Leben, das mehr und mehr gekennzeichnet ist durch gestückelte Existenzformen.

Grundauskommen durch Grundeinkommen?

Kann man sich vorstellen, dass eine Gesellschaft, deren Leitidee das Kulturelle ist, die den Sozialstaat weiter und anders denkt, sich auf ein Grundeinkommen für alle verständigt? Ich kann's mir vorstellen.

Ich kann mir vorstellen, dass die vier schlichten Kriterien für ein Grundeinkommen: Existenz sichernd, individueller Rechtsanspruch, keine Bedürftigkeitsprüfung, kein Zwang zur Arbeit, verdammt viel verändern würden. Das Grundeinkommen soll so hoch sein, dass es gesellschaftliche Teilhabe garantiert: 1000 Euro für jeden, individuell gezahlt, unabhängig von Unterhaltsverpflichtungen von Ehegatten, Eltern und erwachsenen Kindern. Von der Befreiung des Zwangs zur Arbeit versprechen sich die meisten, die an der Idee mitdenken, eine neue Vielfalt von nebeneinander existierenden Arbeits- und Tätigkeitsformen.

Darin liegt der gesellschaftliche Mehrwert: in der Freiheit, zwischen den unterschiedlichen Sphären des Lebens wählen zu können, zwischen bezahlter Arbeit, Beziehungsarbeit, Neuorientierung oder Erweiterung, Forschung und auch Müßiggang, die sich gegenseitig unterbrechen, ergänzen, gar bedingen können.

Vielleicht würden dann die Stücke besser, die Videos, die Performances, weil sie mehr Zeit bekämen, vielleicht würden gar weniger entstehen müssen, was ja bekanntlich die Nachfrage steigern könnte, vielleicht müssten sich dann gar nicht mehr alle KünstlerInnen nennen müssen, weil Kunst zu machen, die zur Zeit würdigste Art ist, arm zu sein, oder sie würden vielleicht seltener "Ich bin eigentlich Schauspielerin aber job' in der Maske" sagen müssen, um dem Eigentlichen nachzugehen.

Es könnte die kleine, wesentliche Veränderung bedeuten von "Was machst Du grade so?" - "Och, ich hab' grad eingereicht." zu "Du, ich hab grad nicht eingereicht."

Allgemein ginge es dabei

  • um den Einzug der Ehrlichkeit in die Politik, die uns nicht länger vorgaukeln muss, wir wür-den wieder Arbeit für alle schaffen und außerdem einen vorsorgenden Sozialstaat,
  • um die Ermächtigung zur Selbstermächtigung,
  • um die Freisetzung des kreativen Potentials eines Jeden.

Wegfallen würden die meisten der 155 steuer- und beitragsfinanzierten Sozialleistungen und die bürokratischen Aufblähungen, die damit verbunden sind. Das würde ein Stück "tote Arbeit" von der Republik nehmen; ein Stück Misstrauen, das unser gesellschaftliches Klima gegenwärtig so sehr prägt und auf den "Begünstigten der Sozialleistungen" lastet, nämlich: SchmarotzerInnen zu sein.

Es lässt sich erahnen, wie es die psychische Verfassung der Republik beeinflussen könnte, wenn die Angst so vieler davor sinken würde, die Existenz zu verlieren und in einer Falle von Abhängigkeit, Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Energie freisetzen.

Vor allem aber: Es ist der für mich überzeugendste Gegenentwurf zu Hartz IV, damit ein Gegenentwurf zu Scham, Stigmatisierung, Angst.

Ohne Existenzangst könnte es um die plötzlich erwachende Idee gehen, mit dem eigenen Vermögen, dem eigenen Können und Wünschen etwas anfangen und gestalten zu können. Das ist der Grund für die Leidenschaftlichkeit mit der die Debatte darüber geführt wird: Es geht um Würde. Und um Freiheit; um die Freiheit "Nein" zu sagen.

Darin liegt der gesellschaftliche Mehrwert: in der Freiheit und in der Würde, zwischen unterschiedlichen Sphären und Phasen des Lebens wählen zu können, zwischen bezahlter Arbeit, Beziehungsarbeit, beruflicher Neuorientierung oder Erweiterung - und auch Müßiggang -, die sich gegenseitig unterbrechen, ergänzen, gar bedingen können. Auch das nenne ich Verflüssigung.

Die Idee knüpft an die humanistischen Ideale der Aufklärung an und schreibt sie ganz und gar unblutig weiter. "Freiheit, Gleichheit, Grundeinkommen" würden dann wirklich für alle Menschen - Frauen wie Kinder und Männer - gelten. Es entwickelt den Menschheitstraum von freien und gleichen Entfaltungsmöglichkeiten weiter. Zwei Jahrhunderte und zwei Jahrzehnte nach der Französischen Revolution könnte "Freiheit. Gleichheit. Grundeinkommen!" den dringend notwendigen gesellschaftlichen Schub auslösen, um Leben, Arbeit, Gemeinschaft, Kümmern ganz anders zu verstehen.

Was wir denken können, können wir auch realisieren. Und an vielen Ecken wird laut über die Kernfrage nachgedacht: "Was würde ich arbeiten, wenn für mein Einkommen gesorgt wäre?" Diese Frage ist zugleich verunsichernd, wie sie die Phantasie und die Imagination entfesselt; sie lädt zum Tagträumen, zum Verwerfen, zum verschwenderischen Neu-Denken ein und führt zur größeren Frage: "Wie wollen und wie können wir eigentlich leben, wenn wir nicht unter den Drohungen von vereinzelnder Existenzangst stehen, wenn wir unsere Fähigkeiten uns und der Gesellschaft zur Verfügung stellen könnten?"

Ja, davon bin ich überzeugt: Grundeinkommen und Kulturgesellschaft würden sich aufs Vorzüglichste gegenseitig verstärken.